Carl Julius Milde, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler
Speckter & Co., Drucker

"Fragment eines Fresko-Gemäldes zu St. Severo in Perugia von Raphael Sanzio d'Urbino" / Die Heilige Dreifaltigkeit nach Raffaels Fresko in San Severo zu Perugia, um 1833

Raffael gilt heute unbestritten als einer der bedeutendsten Freskanten aller Zeiten. Sein Ruhm gründet wesentlich auf seinen umfangreichen, ab Ende 1508 ausgeführten Wandmalereien in den Stanzen des Vatikan (siehe Raffael Ausstellungskatalog 2021 Wirkung eines Genies Kat. 17–54). Dabei ist überraschend festzustellen, dass der Künstler bei Übernahme dieses Auftrags nur über wenig praktische Erfahrung im Freskieren verfügte. Raffael hatte zwar zuvor eine Vielzahl brillanter Gemälde ausgeführt, aber nur einen einzigen Auftrag für eine Wandmalerei erhalten. Dabei handelte es sich um die Ausgestaltung einer Kapelle der von Mitgliedern des Kamaldulenserordens betreuten Kirche S. Severo in Perugia. Obgleich diesem Werk als Ausgangspunkt für Raffaels Laufbahn als Freskant und als eine Art Vorläufer der Disputa großes Interesse gebührte, zählt diese Malerei heute sicher zu den weniger bekannten Werken des Künstlers. (Anm. 1) Die Wandmalerei mit der Heiligen Dreifaltigkeit wurde offenbar bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein nicht ein einziges Mal graphisch wiedergegeben, ein in der Rezeptionsgeschichte der Werke Raffaels sehr ungewöhnlicher Fall. Dann erschienen in kurzer Folge mehrere Reproduktionen, was ein damals zunehmendes kunsthistorisches Interesse am Frühwerk Raffaels erkennen lässt. Eine der sicherlich ersten Wiedergaben stammt von dem Hamburger Carl Julius Milde, der das Wandbild wohl 1831 während einer Italienreise zeichnete. (Anm. 2) Er hat diese Vorlage dann in seiner Heimatstadt mit großer Wahrscheinlichkeit 1833 auf Stein übertragen und veröffentlicht. Mildes Lithographie zeigt Raffaels Komposition, auf der sich nicht weniger als sechs Ordensheilige der Kamaldulenser zu Seiten der Heiligen Dreifaltigkeit befinden. (Anm. 3) Besonders hervorgehoben ist der Ordensgründer, der Hl. Romuald, der zur Linken Christi platziert wurde. In seiner Bildlösung ließ sich der Künstler unverkennbar von den ihm aus Florenz bestens vertrauten themengleichen Wandmalereien von Fra Angelico und Fra Bartolommeo anregen. (Anm. 4) Raffael könnte – folgt man einer alten Inschrift – 1505 mit den Arbeiten an dem Wandbild begonnen haben. Als spätestes Datum für die Fertigstellung kann das Jahr 1508 gelten, als Raffael dem Ruf von Papst Julius II. nach Rom folgte. Ursprünglich war auch der untere Bereich der Chorwand für eine Ausmalung vorgesehen, doch vermochte der mit Arbeit überlastete Raffael diesen Auftrag vor seinem Tod nicht mehr in Perugia auszuführen. Dies übernahm dann 1521 sein Lehrer Perugino. (Anm. 5) In den folgenden Jahrhunderten erlitt das Wandbild schwere Schäden, so ist etwa die Figur Gottvaters nicht mehr erkennbar. Mildes Reproduktion des Freskos ist – soweit wir das aufgrund späterer unsachgemäßer Restaurierungen beurteilen können – recht genau, aber auch tendenziell summarisch. So sind etwa manche ornamentale Details der Gewänder ausgelassen. Die damals bereits zerstörten Teile wurden offenbar nicht oder nur in geringem Maße ergänzt. Dieser im besten Sinne dokumentarische Charakter entsprach Mildes Naturell, der bereits durch sorgfältige Reproduktionen von Hans Memlings sog. Greveraden-Altar im Lübecker Dom hervorgetreten war. Milde publizierte die Lithographie erst, nachdem er sich bei dem Hamburger Graphikkenner Georg Ernst Harzen versichert hatte, dass nicht schon andere Reproduktionen des Freskos existierten. (Anm. 6) Mildes eher unscheinbare Lithographie blieb bis heute weitgehend unbekannt. Dies zu Unrecht, da sie im Gegensatz zu den in den 1830er und 1840er Jahren erschienenen Reproduktionen von Domenico Marchetti, Achille Calzi oder Joseph von Keller auf die Wiedergabe des Sichtbaren beschränkt ist und keine Ergänzungen aus der Wunschvorstellung des Graphikers aufweist. (Anm. 7)
David Klemm

LIT (Auswahl): Kunstblatt 1846, S. 123; Passavant 1858, S. 90–91; Grosskopf-Knaack 1988, S. 229, Nr. B 11

1 Dies spiegelt sich auch in vielen Monographien zu Raffael, wo das Fresko nur geringe Beachtung findet. Passavant dagegen widmet sich ausführlicher dem Werk; vgl. Passavant 1839a, S. 46–48; Passavant 1839b, S. 89–90; Passavant 1858, S. 90–91. Vor allem dürften der schlechte Erhaltungszustand und die schwierige Quellenlage – schon bei Vasari blieb das Werk unerwähnt – zu dem geringen Interesse geführt haben.
2 Perugia war Mildes Lieblingsort in Italien. Längere Aufenthalte lassen sich dort für April 1826, Oktober 1830 und Sommer/Herbst 1831 nachweisen. Da nicht alle Tagebücher des Künstlers erhalten sind, kann nicht mit letzter Sicherheit bestimmt werden, wann er das Fresko für seine geplante Lithographie zeichnete. Aufgrund der Länge des Aufenthalts käme das Jahr 1831 am ehesten in Frage. Freundlicher Hinweis von Henry Smith, Hamburg (E-Mail vom 16. 3. 2021).
3 Dargestellt sind Maurus, Placidus, Benedikt (linke Seite) und Romuald, Benedikt Martyr und Johannes Martyr (rechte Seite). Eine derartige Bildpropaganda geistlicher Gemeinschaften war in italienischen Kirchen seit Jahrhunderten Brauch; Raffael dürften für diese ikonographischen Fragen Berater zur Seite gestanden haben.
4 Dies schreibt schon treffend Passavant 1839b, S. 47.
5 Die Mönche hatten offenbar immer noch auf eine Fertigstellung gehofft, doch drängten sie nach Raffaels Tod auf eine Vollendung. Perugino war damals nicht mehr auf der Höhe seiner Kunst, so dass seine statische Reihung von Heiligen gegenüber Raffaels Komposition stark abfällt.
6 Vgl. den Brief von Georg Ernst Harzen an Carl Julius Milde vom 2. 1. 1833; Stadtbibliothek Lübeck, 8 : V : 3 – Nachlass Milde. Freundlicher Hinweis von Henry Smith, Hamburg (E-Mail vom 16. 3. 2021). Der Brief ist ein interessantes Dokument, wie stark vernetzt Kunstinteressierte bereits damals waren. Harzen hatte sich für Milde bei verschiedenen Bekannten – Theodor Rehbenitz und Carl Friedrich Freiherr von Rumohr – danach erkundigt, ob Reproduktionen des Freskos auf den Markt gekommen waren.
7 Dies betrifft vor allem den nicht datierten Kupferstich von Domenico Marchetti, der Gottvater in einem für Raffael völlig untypischen Stil ergänzte; vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 146, Nr. II.1; Abb. S. 602; dies gilt auch für die 1834 in L’Ape Italiana delle Belle Arti [...] Anno V, Rom 1834, Tafel 16, publizierte Umrisslinienradierung von Achille Calzi; vgl. Hamburger Kunsthalle, Bibliothek, Inv.-Nr. kb-1863-85-118-5-16. Zu Keller vgl. Horn 1931, S. 36; danach hatte Keller die Wiedergabe – analog zu Milde – am Original orientiert, dann aber auf Drängen von Freunden um Figuren aus der Disputa ergänz

Details zu diesem Werk

Kreidelithographie, Nadelschrift 278mm x 424mm (Bild) 307mm x 453mm (Blatt) 355mm x 484mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 17256 Sammlung: KK Druckgraphik, Hamburg, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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