Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Der Bethlehemitische Kindermord (Erste Fassung), um 1512

Der Kupferstich mit dem Bethlehemitischen Kindermord zählt zweifelsfrei zu den bedeutendsten Werken, die aus der Zusammenarbeit zwischen Raffael und Marcantonio Raimondi hervorgegangen sind. Dabei ist zu betonen, dass Raffael die Komposition nicht für ein Fresko oder Gemälde, sondern eigens für eine spätere Übertragung in einen Kupferstich erfunden hat. Wahrscheinlich handelt es sich um einen der ersten derartigen Entwürfe Raffaels überhaupt. (Anm. 1) Mehrere Zeichnungen – etwa in London und Windsor – belegen, wie akribisch der Künstler sich um die Ausarbeitung der komplexen Gestaltung bemüht hat. (Anm. 2) Diese Blätter können als gezielt ausgeführte modelli bezeichnet werden. Die Komposition zeigt die im Matthäus-Evangelium überlieferte Geschichte von der grausamen Verfolgung aller männlichen Kleinkinder in Bethlehem. König Herodes wollte auf diese Weise den prophezeiten neugeborenen König der Juden, Jesus von Nazareth, töten (Mt. 2). Die Darstellung belegt hinlänglich, dass Raffael keineswegs nur der liebliche Madonnen- und Kindermaler war, als der er spätestens seit dem 19. Jahrhundert gern gesehen wurde. Im Gegenteil. Raffael thematisiert das Leiden, den Schmerz, die Angst und Verzweiflung der Mütter ohne Rücksicht auf die Gefühle der Betrachter. Die Reaktionen der Frauen variieren je nach Charakter zwischen stärkster Expression bis zu introvertierter Verzagtheit. Raffaels Bilderfindungen sind höchst einprägsam, man betrachte etwa die auf dem Boden verteilten Leiber der getöteten Kinder oder die genau in der Mitte der Komposition befindliche Mutter, die wie von Sinnen auf den Betrachter zuläuft und ihn somit direkt mit dem furchtbaren Geschehen konfrontiert. Da es sich bei dem Kupferstich offenbar nicht um einen konkreten Auftrag handelte, muss Raffael mit diesem Werk besondere Absichten verfolgt haben. Sicherlich ging es ihm darum, beispielhaft seine kompositorischen Fähigkeiten vor Augen zu führen. Das Blatt ist somit auch dramaturgisch geradezu spektakulär inszeniert. Das Geschehen findet gleichsam wie auf einer Theaterbühne statt. Diese wird im Hintergrund von einer großen, gebogenen Brücke umrahmt, wodurch die Komposition Halt bekommt. Selbiges Detail ist mit einigen Veränderungen dem Codex Escurialensis, einem Zeichenbuch des späten 15. Jahrhunderts, entnommen und zeigt eine Ansicht der Ponte dei Quattro Capi in Rom. (Anm. 3) Das biblische Geschehen wurde demnach ohne Bedenken an den Tiber verlegt. (Anm. 4) Darüber hinaus führt Raffael in seiner Darstellung eine Art Schule der Anatomie vor Augen. Sicherlich angeregt von Michelangelos Karton der Schlacht von Cascina zeigt er die durchweg nackten Männer in vielerlei Haltungen und zelebriert damit geradezu die Schönheit muskulöser Körper. Doch nicht nur Raffael, sondern auch Marcantonio Raimondi trug maßgeblich zur Qualität dieses Kupferstichs bei. Nachdem er sowohl Albrecht Dürer als auch Lucas van Leyden intensiv studiert hatte, verfügte Raimondi über ein sehr differenziertes Repertoire an stecherischen Möglichkeiten. So zeigt das wahrscheinlich um 1512 (Anm. 5) entstandene Blatt ein „geschmeidig gebundenes System modellierender Schraffurlagen, schattierender Linien und Punktierungen […]“(Anm. 6) , die der Graphiker souverän einsetzte. Vergleicht man die erhaltenen Vorzeichnungen Raffaels mit dem Kupferstich, so wird deutlich, dass Raimondi dessen Vorgaben in ein eigenes Liniensystem „übersetzt“ hat. Dies betrifft etwa die Konturierung und Modellierung der Figuren, die bei Raimondi deutlich gebundener ist. (Anm. 7) Es existieren zwei Fassungen des Bethlehemitischen Kindermordes. Lange Zeit wurde eine davon als eine Wiederholung Marco Dentes angesehen. Doch inzwischen stimmen nahezu alle Kenner darin überein, dass Raimondi der Urheber von beiden Zuständen ist. (Anm. 8) Die erste, hier vorliegende Version ist differenzierter modelliert und in den Schattierungen akzentuierter. Zudem gibt es kleinere Unterschiede, von denen der in der frühen Fassung im Hintergrund rechts erkennbare Nadelbaum – es handelt sich um ein Dürer-Zitat – in der Forschung eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. (Anm. 9) Die zweite Version entstand wahrscheinlich vor allem deshalb, da die erste Platte aufgrund der großen Nachfolge schnell abgenutzt war. (Anm. 10) Tatsächlich wurde der Bethlehemitische Kindermord zu der wohl am besten verkauften Druckgraphik des 16. Jahrhunderts. (Anm. 11) Wie zahlreiche Kopien, Varianten und Zitate belegen, reichte sein enormer Einfluss aber weit darüber hinaus. (Anm. 12)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 19-20, Nr. 18; Landau/Parshall 1994, S. 123, 131; Höper 2001, S. 163-165, Nr. A 8.1 (mit älterer Lit.); Gramaccini/Meier 2009, S. 152-153 (Beitrag Hans Jakob Meier), Nr. 58; Ausst.-Kat. Dresden 2012, S. 194, Nr. 24 (Beitrag Gudula Metze); Bloemacher 2016, S. 65-71; Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 181-184, Nr. 51 (Beitrag Achim Gnann); AK Rom 2020, S. 177-178, Nr. IV.20 (Beitrag Achim Gnann)

1 Gramaccini/Meier 2009, S. 152. Ausgangspunkt für die Komposition war mit großer Wahrscheinlichkeit eine später verworfene Entwurfsstudie für das Urteil des Salomo in der Stanza della Segnatura. Die dort skizzierte Figur eines nackten Mannes wurde von Raffael später in die Komposition des Bethlehemitischen Kindermords übernommen; vgl. Pon 2004, S. 122–124.
2 Zu der Abfolge der zeichnerischen Entwicklung vgl. Pon 2004, S. 122–136; Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 174–182 (Beitrag Achim Gnann).
3 Zu den Veränderungen und den damit verbundenen Schlussfolgerungen für die Reihenfolge der beiden Fassungen des Kupferstichs vgl. Bloemacher 2016, S. 65–71.
4 Ein ähnliches Verfahren zeigt auch der Kupferstich Entellus und Dares, auf dem der Zweikampf der beiden Kämpfer durch die Darstellung des Kolosseums von Sizilien nach Rom verlegt wurde
5 Hierfür spricht die oben erwähnte Verwendung einer Studie für das 1511 vollendete Urteil des Salomo. Als Terminus ante quem ist 1514 anzusetzen, da zu diesem Zeitpunkt der Kupferstich als Vorlage für ein Fresko im Kloster San Paolo in Parma genutzt wurde; vgl. Bloemacher 2016, S. 65.
6 Gramaccini/Meier 2009, S. 152.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Zur intensiv und seit langem geführten Diskussion vgl. Höper 2001, S. 164; Bloemacher 2016, S. 65–71. Bloemacher gelingt eine überzeugende Begründung, warum die Version mit dem Nadelbaum die frühere Fassung sein muss. Dies ist daran erkennbar, dass die erste Fassung einige Fehler in der Verwendung der Vorlage aus dem Codex Escurialensis aufweist, die in der zweiten Version korrigiert worden sind.
10 Denkbar ist auch, dass Raimondi die Komposition in Details verbessern und verändern wollte; vgl. Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 184.
11 Vgl. Höper 2001, S. 164.
12 Ebd., S. 153; Höper 2001, S. 164

Details zu diesem Werk

Kupferstich 279mm x 434mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 169 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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