Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Joseph und die Frau des Potiphar, um 1520

Im ersten Buch Mose wird berichtet, dass Joseph von der Frau des Potiphar begehrt wurde. Als er eines Tages in ihr Haus zum Arbeiten kam, ergriff sie sein Gewand und wollte ihn in ihr Bett ziehen. Doch Joseph weigerte sich und eilte davon (Genesis 39, 7–12). Diese dramatische, erotisch stark aufgeladene Szene wurde vor Raffael relativ selten dargestellt. In der von ihm und seiner Werkstatt im siebten Joch der Loggien ausgeführten Komposition sieht man einen verzweifelten, geradezu entsetzten jungen Mann, der energisch der für ihn prekären Lage zu entkommen sucht. Um die beiden Personen ist ein mit Stoffen drapierter weiter Raum erkennbar. Die Komposition ist der Dynamik entsprechend nicht klassisch ausgewogen zentriert, sondern eindeutig in die rechte Bildhälfte verlagert.

Diese Szene wurde erstmals durch Marcantonio Raimondi als Kupferstich wiedergegeben. Betrachtet man die Hauptgruppe um Potiphars Frau und Joseph, so zeigen sich deutliche Übereinstimmungen zum Deckenbild. Bei einem genaueren Vergleich ergeben sich indessen zahlreiche Unterschiede. Dies betrifft Details der Haltung, wie z. B. den linken Fuß Josephs, der bei Raimondi auf den Boden aufsetzt und zudem ist sein Gewand anders gefaltet. Bei beiden Personen sind die Haare verändert. Josephs Mimik zeigt deutlich weniger Entsetzen, eher Verwunderung. Weitreichende Unterschiede weist die Darstellung des Raumes auf, der im Stich enger gefasst ist. Verändert sind die Stellung des Bettes und die Anordnung der Draperien, im Hintergrund ist zudem das Standbild eines bärtigen, gehörnten Mannes (Satyr?) erkennbar.

All diese Unterschiede deuten darauf hin, dass Raimondi nicht direkt nach dem Deckenbild gearbeitet haben kann. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass er auf eine Studie Raffaels zurückgriff. Da diese nicht erhalten ist, muss offenbleiben, inwieweit die Unterschiede zwischen Stich und Deckenbild Raffael oder Marcanton zuzuschlagen sind. (Anm. 1) Im Ergebnis weisen beide Darstellungen unterschiedliche künstlerische Haltungen auf. Während im Deckenbild die Emotionen und die Dynamik des Geschehens auch formal erkennbar sind, so zeigt der Stich eine angesichts der Situation fast paradox erscheinende
kühlere und beruhigtere Darstellung. (Anm. 2) Hierin wie auch in der gesamten Gewandung sowie der Statue ist eine Hinwendung zur Antike erkennbar. (Anm. 3) Die Szene ist dadurch eigentlich ihrer religiösen Bedeutung enthoben und auf eine allgemeinere Ebene gehoben. Mögen die antikisierenden Elemente beruhigend wirken, so wird demgegenüber ein enormer Spannungsaufbau dadurch erzielt, dass der Bildausschnitt auf Josephs Notlage hin ausgerichtet ist. Dadurch wird dessen bedrohliche Situation für den Betrachter zu einem fast unausweichlichen Seherlebnis.

Der Stich zeigt Raimondi als souveränen Beherrscher graphischer Mittel. Das sehr dichte Liniensystem verleiht den Figuren Plastizität und verbindet sie harmonisch mit dem umliegenden Raum. Das Blatt weist eine eigene feine, fast samtige Textur auf. Ähnliche Elemente, wie auch die Verbindung von bewegten Figuren vor dunklem Grund, wandte Raimondi auch bei der Umsetzung später Entwürfe Raffaels an, was eine Entstehung der Josephsszene um 1520 denkbar macht.
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 10, Nr. 9; Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999,
S. 164, Nr. 102 (mit älterer Lit.); Höper 2001, S. 430, Nr. G 6.4

1 Laut Passavant 1839b, S. 178 befand sich eine Skizze für die Darstellung im Cabinet Crozat; vgl. auch Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 164.
2 Im Fresko wirkt der Mantelsaum mit seinen gezackten Linien wie eine Starkstromleitung – was im Stich nicht sichtbar ist.
3 Tatsächlich griff Raffael offenbar für die Josephsfigur auf Motive antiker Sarkophage zurück; vgl. Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 164.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 207mm x 243mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 163 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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