Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichner, Erfinder

Adam und Eva, um 1512/14

Die Zusammenarbeit zwischen Raffael und Marcantonio Raimondi führte nicht nur auf dem Feld antiker Themen (Inv.-Nrn. 233, 246, 296, 328 und 500), sondern auch im religiösen Bereich zu hervorragenden Ergebnissen. Beispielhaft hierfür steht der Kupferstich Adam und Eva. Raffaels Darstellung legt dabei durchaus eine andere Lesart als die im ersten Buch Mose überlieferte Version nahe. Bei ihm könnte es nämlich Adam sein, der Eva die verbotenen Früchte anbietet, wohingegen die in der Bibel als Verführerin gebrandmarkte Eva noch zurückhaltend darauf reagiert. Zwar ist zu spüren, wie sehr die Verlockung an ihr nagt, da sich ihr sinnlicher Körper schon Adam zuwendet. Ihr Gesicht drückt indessen noch Skepsis aus. Oder hat Adam doch die Früchte erhalten und Eva wartet, kokett mit ihrem Haar spielend, auf seine Reaktion? Unstrittig ist, dass sich beide Figuren an den hinter ihnen befindlichen Baumstämmen festhalten, vielleicht hoffend, damit den unvermeidlichen Lauf des Schicksals aufhalten zu können. Raffael bannte diesen für das christliche Selbstverständnis entscheidenden Moment in eine subtil ausgewogene Komposition. Sensibel sind die beiden Körper in ihren Kurvaturen aufeinander abgestimmt, was in den fast mit ihnen verschmolzenen Bäumen seine Entsprechung findet. Alles ist auf das zarte, erotisierende Liebesspiel der beiden Protagonisten ausgerichtet, so dass selbst der für das Ereignis nicht unwichtigen, im rechten Baum versteckten Schlange nur eine Statistenrolle als gespannte Beobachterin zukommt. Raffael erreicht hier eine noch überzeugendere Dramatisierung des Ereignisses als etwa in dem Deckenbild der Stanza della Segnatura (Inv.-Nr. 17210d). Und es ist ein reizvoller Gedanke, dass die starke Hinwendung der Hauptfiguren zueinander eine direkte Antwort auf Dürers Meisterstich darstellt, in dem Adam und Eva fast unbeteiligt nebeneinander stehen. Trotz dieser unverkennbaren Feinheiten wurde die Autorschaft Raffaels vereinzelt in Frage gestellt, doch ist man heute sehr sicher, dass der Entwurf auf ihn zurückgehen muss. (Anm. 1) Ein starkes Indiz dafür ist eine Raffael zugeschriebene feine Federzeichnung in Oxford, die Adam in sehr ähnlicher Pose zeigt, wobei er dort die Frucht anzunehmen scheint. (Anm. 2) In jedem Fall muss es noch eine stärker ausgearbeitete, heute nicht mehr nachweisbare Kompositionszeichnung gegeben haben. Marcantonios Umsetzung des Entwurfs ist bewundernswert. (Anm. 3) Die Ausführung der Körper, Bäume und Pflanzen ist präzise und vollendet. Mit großer Sicherheit sind lichte und dunklere Partien gegeneinander gestellt. Eine Zutat Marcantons dürfte der von Lucas van Leyden angeregte Hintergrund mit der Siedlung sein. (Anm. 4) Dabei gelingt es ihm durch technische Differenzierung eine subtile und harmonische Einbindung in die Gesamtkomposition. Diese Verbindung von Vorder- und Hintergrund ist hier überzeugender als z. B. in der um 1511 datierten Lukretia (Inv.-Nr. 233), was auf eine etwas spätere Entstehung von Adam und Eva hindeuten könnte. (Anm. 5) Hierzu passt auch der relativ weiche Gesamteindruck, vornehmlich der Figuren. Dieser beruht darauf, dass Marcanton hier anders als im Frühwerk versucht, Konturlinien zu vermeiden. (Anm. 6) Zur Definition der Form verwendet er nun sehr eng und parallel gesetzte Schraffen, ohne die Figuren durch eine Kontur linear von dem sie umgebenden Raum abzugrenzen. (Anm. 7)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S .3, Nr. 1; Shoemaker 1981, S. 100–102, Nr.
22; Ausst.-Kat. Dresden 1983, S. 72–74, Nr. 107; Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 164, Nr. I.1; Knaus 2016, S. 56–60; Bloemacher 2016, S. 290–291

1 Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 100.
2 Oxford, Ashmolean Museum, Inv.-Nr. WA 1846-180_v (P II 539 v); Knab/ Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 211, S. 575, Nr. 211; Die auf dem Verso befindliche Zeichnung mit dem Tod des Meleager wird auf um 1506/07 datiert; vgl. Ausst.-Kat. Oxford 2017, S. 114, Nr. 30. Hieraus ergibt sich eine interessante Fragestellung bezüglich der zeitlichen Verwendung von Motiven. Geht man davon aus, dass Raffael die Vorder- und Rückseite des Oxforder Blattes relativ zeitnah ausführte, dann hätte Raimondi erst gut fünf Jahre später Zugriff darauf bekommen. Dies ist nicht völlig auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Eher denkbar ist, dass Raffael die frühe Idee zu einem Adam in einer heute verlorenen weiteren Zeichnung nach 1510 (?) übernahm und mit einer Darstellung der Eva zur bekannten Komposition vollendete.
3 Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 100.
4 Einflussreich ist etwa der Kupferstich der Heiligen Familie mit dem Apfel; vgl. Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 100.
5 Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 101.
6 Bloemacher 2016, S. 290.
7 Ebd

Details zu diesem Werk

Kupferstich 242mm x 176mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 159 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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